Kurz vor Weihnachten 1945, nachdem auch die letzten Arbeitsbrigaden nach monatelangem Einsatz in der Landwirtschaft von Kolchosen und Sowchosen, wo selbst sich die Kameraden für den Winter bereits recht gut eingerichtet hatten, in das inzwischen überfüllte Sandlager Jonowa zurückgekehrt waren, begann die große Einteilung von Brigaden für den Holzeinschlag und für die Industrie. Diese Arbeitsbrigaden wurden ohne ärztliche Untersuchung irgendwie nach einem uns nicht bekannten Verfahren mit Hilfe der „Antifa” und der deutschen Lagerleitung listenmäßig zusammengestellt, wobei der Russe Wünsche von Kameraden, die zusammenbleiben wollten usw. berücksichtigte. Der Abmarsch erfolgte bereits nach wenigen Tagen. Damit wurden auch die Kameraden der 122. ID auseinandergerissen. Das war schmerzlich, zumal wir bereits Vorbereitungen für den Heiligen Abend getroffen hatten. Ich wurde für das Schachtlager eingeteilt, das sich etwa 1-2 km südwestlich Borowitschi befindet. Dort trafen wir kurz vor dem Weihnachtsfest nach einem 3-4 stündigem Fußmarsch ohne ausreichende Winterbekleidung ein.
Vor dem Eingangstor mussten wir bei Schnee und Kälte lange auf unseren Einlass warten. Offenbar wurden erst telefonische Rückfragen gehalten, was mit diesem Zugang geschehen soll. Wir hatten den Eindruck, als wenn die Lager im Abgeben von Kriegsgefangenen. großzügiger waren als bei der Aufnahme. Schließlich wurden wir in eine ausgekühlte, verräucherte Holzbaracke eingewiesen, die mit doppelstöckigen, durchgehenden Holzpritschen ausgestattet war.
Das an einer kleinen Anhöhe liegende Schachtlager bestand aus den bekannten Holzbaracken einschliesslich Küche, Sauna, Handwerkerstuben, Magazine, Krankenrevier, Lazarett usw. In der Nähe wurden bereits in einem Schacht Braunkohlen gewonnen. Außerdem baute man in verschiedenen Richtungen Eisenbahndämme mit Gleisen und legte Gestänge für Licht- und Telefonleitungen. Der bisherige Braunkohlegewinn muss sich als fündig erwiesen haben, andernfalls hätte der Russe die Anlagen nicht weiter ausgebaut. Am Rande dieses Gebiets standen Bürobaracken, in denen die russische Ingenieure und Techniker mit großer Winterbekleidung ein- und ausgingen. Außerdem war hier ein reger Autoverkehr zu beobachten.
Nachdem wir unsere wenigen Habseligkeiten angelegt hatten, wurden sofort Wintersachen ausgegeben und die Arbeitsbrigaden eingeteilt. Die erste Brigade musste bereits nach einer Stunde abmarschieren, da im Schacht in 3 Schichten durchgehend gearbeitet wurde. Durchnässt kehrten die Kameraden nach 9 Stunden zurück und berichteten. Von oben tropfte Wasser herunter, an den Seiten sickerte es durch, so dass die unterirdischen Gänge vermatscht waren. Das Werkzeug war stumpf bzw. verbeult. Es war eine Qual, damit zu arbeiten. Auf einfachen Holz- bzw. Steckleitern musste auf und abgestiegen werden. Die elektrischen Leitungen lagen oder hingen frei und waren nicht abgesichert. Bis zum Beginn der nächsten Schicht wurden die Sachen in einem geheizten Raum unserer Baracke getrocknet. Das gelang nicht immer, weil es an Brennmaterialien mangelte. Es musste erst anderweitig weggenommen werden. Der Russe wusste sich immer zu helfen. Er stopfte ein Loch zu, riss aber dabei gleichzeitig ein anders auf. Des Nachts zurückkommende Schachtbrigaden erhielten anschließend ihr warmes Essen sowie kalte Verpflegung. Ich gehörte einer Eisenbahnerbrigade an, wir schütteten Bahndämme auf, legten Gleise mit Weichen usw. Das hört sich leichter an, als es getan werden konnte. Der Boden war gefroren, den ganzen Winter über lag Schnee, die Durchschnittstemperaturen betrugen -20 bis 30 Grad. Obwohl uns ein älterer russischer Meister anleitete, konnte wegen der Kälte und des unzulänglichen Handwerkzeugs keine produktive Arbeit geleistet werden. Als technische Leiterin stand uns eine ca. 30 jährige nicht hässlich aussehende russische Ingenieurin vor, die offenbar nicht deutsch konnte. Sie trug einen langen Pelzmantel mit Kapuze sowie hohe Filzstiefel und trieb uns von Zeit zu Zeit mit russischen Kommandos an. Angeblich hatte sie eine Strafe zu verbüßen, wohnte in der Nähe, konnte sich aber frei bewegen, musste sich aber bewähren. Das hat sie auch getan.
Selbst wenn bei einer Kälte von über – 30 Grad niemand aus dem Lager durfte, trippelte die blonde und schlanke Ingenieurin um 07:00 Uhr vor dem Lagertor auf und ab und verlangte zwecks Sollerfüllung unsere Brigade. Es wurde lange palavert, bis die Lagerleitung nachgab und die Ingenieurin in Empfang nahm. Wenn auch das Ergebnis der Tagesarbeit gleich Null war, wird ihr das Baukombinat bzw. die Bewährungsstelle einen solchen Arbeitseifer bestimmt hoch anrechnen, während wir die Dummen waren. Unsere meist zweideutigen Bemerkungen nahm sie gelassen hin. Dennoch waren wir im Zweifel, ob sie doch nicht die deutsche Sprache beherrscht, wie in Russland üblich.
Unsere Brigade wurde alsbald nach einen anderen Arbeitsplatz dirigiert. Dort war an einer kleine Anhöhe ein Behelfsgleis gelegt auf das die großen Sandloren mit einer Dampflokomotive geschoben wurden. Seitlich an den Waggons wurden Bretterrampen angebracht.Und nun mussten wir mit Karren den Sand auf die Bahnwagen bringen. Das hochschieben der Karren meist mit Anlauf hatte es in sich, bei unserer kümmerlichen Verpflegung, zu schwer, so das darüber die Kameraden unzufrieden waren und der meist auf den Hügel stehenden vor Kälte mit den Beinen schwingenden Ingenieurin etwas zuriefen. Darauf explodierte sie und schrie uns perfekt deutschsprechend an. Damit war auch das Sprachrätsel gelöst. Und ab jetzt unterhielten wir uns im Flüsterton.
In unserer Nähe wurde bereits seit Jahren an der Mauer eines Kombinats gearbeitet. Auch bei Frost über – 10 Grad musste gemauert werden. Vorher wurden erst die Steine angewärmt sowie der Mörtel,Kalk, Zement und Sand usw. in kleinen Trögen mit heißen Wasser umgerührt und Bau fertig gemacht, das heißt wenn diese Baustoffe zur Stelle waren, aber da haperte es schon. Wir als Laien sagten uns, dass beim Einsetzen des Tauwetters der Boden und das Gemäuer nachgeben müssten. Unsere gelernten Maurer haben uns das bestätigt, spätesten im Frühjahr mußte sie das Gleichgewicht verlieren und umfallen. Es trafen laufend Kriegsgefangene ein, die ja beschäftigt werden mussten.
Das Schachtlager stand auf keinen guten Ruf. Die Baracken waren überbelegt. Es bestand Ofenheizung aber mit nassem Holz, das die Brigaden von draußen mitbrachten, streikte der Ofen. Die elektrische Leitung gab nur ärmliches Licht. Die Latrinen waren einmal mit Bretter verkleidet, die man längst mit gehörigen Zwischenräumen herausgerissen und für andere Zwecke verwendet hatte, so das diese Anlagen völlig verschneit sowie vereist waren und daher beim Benutzen Balance gehalten werden musste.
Die Kameraden in den Handwerkstuben arbeiten nur auf Sollerfüllung hin, waren an einen Stiefel mehrere Reparaturen notwendig wurden nur eine ausgeführt so das dieser Stiefel nach einiger Zeit wieder in die Schuhmacherei gegeben werden mußte. Bei Bekleidung und Wäsche verhielt es sich ebenso, so zogen sich mache Reparaturen Wochen hin, dabei wurden dann die Punkte gesammelt, die für die Erfüllung des Solls notwendig waren. Was in diesen Lager zusammen geschummelt worden ist, um vielleicht dadurch einen Kascha extra zu erhalten muss heute noch bewundert werden.
Kurz nach dem Eintreffen war Heiligabend, die Baracke war nur mäßig belegt, da die Schachtbrigaden unterwegs waren, auch hier erinnern wir uns an Weihnachten, allerdings saßen wir nicht an gedeckten Tischen. Es gab keine Nüsse, Äpfel und Tannenbäume. Während der Himmel wolkenverhangen, düster war und weiteres Schneetreiben einsetzte, schleppte man in Holzeimern das warme Abendessen heran, das der Russe als Kapusta (Weißkohl mit Wasser) bezeichnet. Es war zum verzweifeln, kein Weihnachtslied, keine Ziehharmonika, keine Post, kein Päckchen. Ein Kamerad raffte sich zusammen und verlas die Weihnachtsbotschaft. Ein unbekannter Kamerad holte einen Kerzenstummel hervor, steckte sie an und zeigte mir ein Foto seiner Familie, hierbei liefen ihm die Tränen über die Wangen.
Ich konnte ihn nur damit trösten dass wir uns in der Heimat alle wiedersehen. In dieser Zuversicht legten wir uns auf die Seite, schliefen ein und verlebten die ersten Weihnachtsfeiertage in russischer Kriegsgefangenschaft. Die Kameraden besuchten sich untereinander und schütteten hierbei ihre Sorgen und Nöte aus. Überwiegend wurde vom Essen geklönt und wann es evtl. nach Hause geht. In meiner nächsten Nähe war so ein Besuch zusammengekommen. Es war interessant zuzuhören, wie und was sich die Kameraden in der Heimat alles zubereiten wollten, wie Getränke gemixt werden usw.. Allmählich wurde dann gesponnen. Außerdem überschlugen sich die Latrinenparolen — und doch blieb alles beim alten. Von der 122. ID waren noch der Stabsveterinär Dr. Spaa (aus Österreich und vom IR 411) und wenn ich mich recht erinnere, auch der Kamerad Buchs vom IR 410 sowie der 1948 zurückgekehrte Oberzahlmeister Beier oder Beyer (aus Kolberg) von unserem Verpflegungsamt in diesem Lager. Sonst waren wir in alle Winde zerstreut. Auch die sehr bescheidenden Feiertage gingen vorüber und der graue Alltag nahm wieder seinen Weg.
Aufgefallen sind mir Kameraden, die bei einigermaßen Kräften während der Sommermonate 1945 im landwirtschaftlichen Einsatz noch die Sense geschwungen haben, im Schachtlager alsbald unverkennbar aufgedunsen waren. Andere magerten zusehends ab, waren nur noch ein Skelett und nicht mehr arbeitsfähig. Sie kamen ins Lazarett oder in die OK-Baracke, die bereits im Februar 1946 überfüllt war. In dieser Baracke sahen die Wände und Holzpritschen nicht etwa vom Anstrich, sondern von zum Sterben stinkenden Wanzen rötlich aus. Als wir einen sowjetischen Offizier darauf hinwiesen, gestikulierte er mit den Händen, gab er zu verstehen, das wir die Wanzen fangen und mit beiden Daumennägeln zerdrücken sollten. Als Quittung hierfür musste er ein schallendes Gelächter hinnehmen. Fast täglich starben Kameraden weg. Mein rechter Nachbar, den ich nicht einmal mit Namen kannte, lag eines Morgens tot da, ohne daß jemand sein Ableben bemerkt hatte.
O. K. heißt: Ohne Kategorie. Zu ihr gehörten Gefangene, die wegen ihres Gesundheitszustandes vorübergehend in keiner Arbeitskategorie eingestuft waren und sich erholen sollten. Das Essen wurde reichlicher gegeben, die Schlafgelegenheiten waren besser.
Soweit wir auch noch von Läusen befallen waren, mussten wir regelmäßig in die Sauna. Außerdem wurde die Bekleidung und Wäsche entlaust, wobei aber die Läusebrut — Nissen — nicht abgetötet werden konnte. Der Russe wusste sich auch hier zu helfen. Er stellte eine Arbeitsbrigade von OK-Kranken zusammen, welche gereinigte Wäsche auf die linke Seite umdrehte und dann die Nähte mit einer kleinen Glasscherbe auskratzten, so dass im allgemeinen keine Läusebrut zurückblieb. Da kein Soll verlangt wurde, haben wir in einem besonderen Raum und ohne Aufsicht gründlich gearbeitet, um von der Läuseplage freizukommen.
Im Monat Februar 1946 verbreitete sich das Gerücht, dass sich der Kamerad Hermersdörfer vom IR 411 mit verbundenem Kopf im Karzer befinden soll, der zwischen Wohnbaracken stand, an den man aber nicht so ohne weiteres herankommen konnte. Die wenigen Kameraden der 122. ID hatten sich von der Anwesenheit des Kameraden Hermersdörfers gegenseitig unterrichtet. Eines Vormittags nach der Zählung – es war ein Sonntag – konnte ich mich bis auf ca. 20 m dem Karzer nähern, vor dem etwa 8-10 Insassen standen und gezählt wurden. Hierbei glaube ich, den Kameraden Hermersdörfer, der mich hier nicht vermuten konnte, mit total verbundenem Kopf und Hals von der Seite her erkannt zu haben, obwohl der russische Zähloffizier nur kurz vorbeiging und der Karzeraufseher die Kameraden gleich wieder hineintrieb. Ich war mit dem Kameraden Hermersdörfer von August 1939 bis Kriegsschluss zusammen und kannte ihn sehr gut. Eine Verbindung mit ihm konnte wegen der Sicherheitsmaßnahmen nicht aufgenommen werden.
Ein seinerzeit zurückgekehrter Kamerad hat mir erzählt, dass unser Barackenältester – Stabsveterinär, nicht von unserer Divison – zu 25 Jahren Zwangsarbeit wegen Sabotage verurteilt worden ist, weil angeblich die Arbeitsbrigaden seiner Baracke nicht rechtzeitig ans Tor gekommen sind.
Durch die fettarme Verpflegung, kalte Witterung sowie unerträglichen Arbeitsverhältnisse wurde ich krank. Die Füße und Beine schwollen an, so dass ich kein Schuhzeug mehr anziehen konnte und in das Lazarett verlegt wurde. Von da kam ich in die OK-Baracke, etwa im April/Mai 1946 kurzfristig wieder ins Sandlager und anschließend ins Erholungslager. Immer noch – auch vom Russen – wurde ich laufend in D III eingestuft, so dass ich für ihn wertlos war. Daraufhin erfolgte im September/ Oktober 1946 meine Entlassung aus der Kriegsgefangenenschaft. Borowitschi ist eine Land- sowie Industriestadt und liegt etwa 80 km ostwärts der Waldanhöhe. Das Schachtlager gehörte zum Gefangenenbereich 270.
Quelle: Mitteilungsblatt der ehemaligen 122. (Greif) Inf.-Division, Nr. 49, Dezember 1971