Von den 18.000 Soldaten der Greif-Division gibt es heute (1960) noch knapp 600, deren Anschriften wir kennen. Abgesehen von den Kameraden, die in der sowjetisch besetzten Zone wohnen, werden es nicht sehr viel mehr sein, die noch leben. Die Anzahl unserer Gefallenen kennen wir nicht. Aber alle leben sie in uns weiter, jeder einzelne von ihnen in mindestens einem von uns als der ganz persönliche gute Kamerad. Und ich glaube, sie brauchen unsere Obhut, denn die Haltung des Volkes, jedenfalls seiner offiziellen Vertreter zu ihnen wird immer fragwürdiger, je mehr die Zeit vergeht.
In den Ansprachen anläßlich des diesjährigen „Volkstrauertages” trat diese Fragwürdigkeit deutlich zutage. Gefragt wurde nicht nach dem Opfer, das die Gefallenen für uns alle gebracht haben, sondern nach dem „Sinn“ dieses Opfers. Ein Professor aus Frankfurt, der die Gedenkrede hielt, erklärte, daß der letzte Krieg wie andere zuvor die Geburtswehen einer sozialen Neuordnung dargestellt habe. Der Bundespräsident dagegen sprach von dem „Hitlerkrieg”. Ich meine, wir sind weder für eine soziale Neuordnung noch für die uns unbekannten Pläne Hitlers in den Krieg gezogen, sondern wir haben ganz einfach unsere Pflicht als Soldaten getan. Wir wissen sehr wohl, daß die Erfüllung dieser Pflicht von einer tragischen Problematik überschattet war, aber unseren gefallenen Kameraden geschieht Unrecht, wenn man ihr Opfer mit Maßstäben mißt‚ die sich erst nachträglich ergeben haben. Wir nehmen für sie in Anspruch, daß sie für Deutschland kämpften und starben. Wenn das heute überholt erscheint, weil in der veränderten Welt das Vaterland keinen Wert mehr darstellt, so tut das der Größe des Opfers unserer gefallenen Kameraden keinen Abbruch.
Das beste, was von offizieller Seite zu der besagten tragischen Problematik gesagt worden ist, ist meines Erachtens in der Gedenkrede des früheren Divisionspfarrers Professor Dr. Vögtle am Volkstrauertag 1957 enthalten. Der Redner hat damals ausgeführt:
„Warum kämpften, wofür starben sie? Taten sie es in blindem, unerschütterlichem Glauben an einen mythisch glorifizierten Führer, dessen gewaltige und gewalttätige Erfolge den oft beschworenen Segen des Allmächtigen zu garantieren schienen? Setzten sie, je länger desto mehr, alles nur auf eine Karte: Sieg oder Untergang? Kämpften sie, nachdem der Krieg nun einmal vom Zaun gebrochen, eine häßliche Tatsache war, und zwar ein Krieg, der mit dem ganzen Aufgebot moderner Vernichtungswaffen und gegenseitigen Hasses geführt wurde — kämpften und starben sie aus der nüchternen Überlegung, aus der immer stärker bedrängenden Ahnung, daß nur ein Sieg der Waffen Volk und Heimat vor einer furchtbaren Rache der einmütigen Gegner, vor einem noch schrecklicheren Ende bewahren kann? Kämpften und fielen sie weiter und weiter in der gutgläubigen, sehnsüchtigen Erwartung oft angekündigter kriegsentscheidender Waffen? Oder empfanden sie die Fragwürdigkeit und Aussichtslosigkeit des ganzen Unternehmens, angesichts eines erbarmungslosen Kriegsgerichtes auch die Aussichtslosigkeit eines persönlichen Widerstandes, und trugen die bittere Last des äußeren Kampfes und innerer Konflikte weiter, von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht, weil sie einfach mitmachen mußten, weil sie keinen besseren Ausweg sahen, weil sie unmittelbare Verantwortung für das nackte Leben des nächsten Kameraden, der Gruppe, des Zuges, der ganzen Einheit immer von neuem dem selbstlosen Einsatz verlangte? Ergaben sie sich ihrem unabwendbaren Schicksal, oft genug in dumpfer Resignation, an Gott und den Menschen zweifelnd und verzweifelnd, fluchend und betend und doch immer noch einmal hoffend, hoffend auf ein nahes Ende, ein Wiedersehen in der Heimat? Alle diese Fragen glaube ich bejahen zu müssen, wenn wir der widerspruchsvollen Wirklichkeit einigermassen gerecht werden sollen. Alle diese Haltungen, Überzeugungen, Ahnungen, Hoffnungen, Stimmungen waren in den Frontsoldaten des letzten Krieges lebendig, rangen und wechselten miteinander von Situation zu Situation, von Mann zu Mann. Wir müssen sie kennen und uns immer wieder vergegenwärtigen, um die ans Übermenschliche grenzenden Leistungen zu verstehen, in ihrer unbestreitbaren Größe zu würdigen. Diese Millionen Taten höchster Entschlußkraft, Leidens- und Todesbereitschaft: denn das ist ja Tapferkeit! Das millionenfache Ausharren dieser oft zutode ermüdeten, dürstenden, frierenden‚ schmerzlich verwundeten Soldaten in Minuten, Stunden, Nächten und Wochen akutester Todesgefahr, in höllischem Feuer, oft genug schutz— und wehrlos einer vielfachen Übermacht von Menschen und Material ausgeliefert. Diesen millionenfältigen Erweis einer kameradschaftlichen Verbundenheit auf Tod und Leben. Wir müssen uns jene Überzeugungen und Stimmungen, dieses unentwirrbare Geflecht von Pflicht und Verantwortungsbewußtsein, von lähmender Erkenntnis, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit, von Lebenswillen und Heimweh in dieser Stunde vor die Seele halten und — einen Augenblick wenigstens — mit einem menschlich fühlenden Herzen gedenken. Dann werden alle Ressentiments eines Für und Wider verstummen. Ein Letztes wird sichtbar, das alle diese gefallenen und gestorbenen Soldaten eint, ja eint mit allen Kriegstoten aller beteiligten Völker: es ist das Opfer, das Ganzopfer ihres Lebens!
Ihr aller Sterben steht unter dem Wort Opfer, sei es, daß sie sich, bewußt handelnd, selbst geopfert haben, sei es, daß sie sich, ratlos leidend, opfern ließen!
An der menschlichen Größe und Schwere dieses Opfers eines jeden einzelnen unserer Gefallenen haben wir nichts abzumarkten. Sie starben ja nicht mit dem unverwelklichen Ruhmeslorbeer, den lediglich die Mit— und Nachwelt einer wirklichkeitsfremden Romantik dem zu Boden sinkenden Soldaten reichen läßt. Ihr Sterben war so nüchtern und prosaisch, wie nur ein Sterben sein kann. Sie waren auch viel zu echte Menschen, um etwa im Tode sokratisch den Befreier aus der Welt der sinnenhaften Körper erblicken zu können. Der Tod war ihnen in der Tat der „letzte Feind“, der immer wieder von neuem und immer drohender vor ihre Augen trat. Und so verschieden die äußeren Umstände auch sein mochten, unter denen dieser letzte Feind nach ihnen griff, immer war ihr Sterben hart und bitter, das Lebensopfer der besten und jüngsten deutschen Mannesjugend, des Mannes in der Vollkraft des Lebens: immer waren es Menschen, die leben wollten, die das Leben noch vor sich hatten, noch etwas leisten wollten, für andere dasein wollten und dasein sollten! Das war ja meist der bittere Wermutstropfen in ihrem Leidenskelch. Der einzelne mußte den ihm drohenden Tod nicht nur als ureigenstes persönliches Opfer empfinden. Er mußte ihn als Opfer, als blutende Wunde seiner Familie, seiner Lieben mit- und vorwegerleiden. Ein Unmensch, der es fertig brächte, solchem Ganzopfer unserer gefallenen Soldaten und Kriegstoten seine Achtung, ehrfürchtige Anerkennung, das Gedenken brüderlicher und schwesterlicher Liebe zu versagen!
Heute (1960) scheinen diese, vor drei Jahren gesprochenen Worte für die offizielle Meinung schon überholt zu sein. Umsomehr ist es unsere Aufgabe, unsere Gefallenen in unsere Obhut zu nehmen; denn wir wissen, daß “die unmittelbare Verantwortung für das nackte Leben des nächsten Kameraden, der Gruppe, des Zuges, der ganzen Einheit immer von neuem den selbstlosen Einsatz verlangte“. Und dieser „nächste Kamerad“, das waren wir, Du und ich, wir alle von der „Greif”-Division.
Wißt ihr noch, wie es war? Manchmal, wenn am Abend die Verluste bekannt wurden, hat man sich geschämt, daß man noch lebte.
Wir haben am Volkstrauertag, dem 13. November 1960, wieder einen Kranz am Ehrenmal in Osterode niedergelegt.